Libyen
Libyen
Wer trägt die Schuld am Zusammenbruch eines einst reichen Staates?
Das seit dem Altertum von wechselnden Mächten besetzte Territorium zwischen Mittelmeer und Zentralsahara besteht zu über 90 % aus Wüste. Der grösste Teil der Bevölkerung lebt in der Küstenzone.
Das Land fasst drei historisch und wirtschaftlich unterschiedlichen Räumen zusammen: Tripolitania, Cyrenaika und die Saharagebiete (Fezzan), die eher Durchgangsgebiete als Zentren politischer Organisation darstellen. Eine Ausnahme macht hier der Fezzan während der Herrschaft der Senoussia, die von der Cyrenaika aus ihr Zentrum immer weiter nach dem Süden vorschob, bis sie 1895 Kufra erreichte.
Die türkische Kontrolle über den Raum verstärkte sich im 19. Jhdt. Die einheimische Gesellschaft nahmen eine deutlich verschiedene Entwicklung. Für die Eliten war der türkische Einfluss und allgemein die Beziehungen zum arabischen Kulturraum (Ägypten) massgeblich. Das Hinterland blieb alten Traditionen und patriarchalen Herrschaftsverhältnissen verhaftet. Der Transsaharahandel vom Niger nach Tripolis profitierte von der Stabilisierung der Verhältnisse durch die Senussia. Die Routen im Osten waren sicherer als jene, die von Marokko oder Algerien ausgingen; die Herrschaft in Kufra erschloss neue Brunnen, sicherte die Kaufleute gegen Räuber und hob Zölle ein. Tripolis und Misurata waren nicht nur bedeutende Handelsplätze; auch das Gewerbe profitierte von der Verarbeitung der gehandelten Waren.
Mit dem Ausgreifen der europäischen Mächte und der Schwächung der Osmanen verlor Libyen Gebiete im Osten und Westen und stand der wachsenden Macht der Kolonialmächte wehrlos gegenüber. Italien begann 1911 mit der Eroberung, doch erst Anfang der 1930er Jahre, nach einem 9-jährigen brutalen Kolonialkrieg, war die militärische Besetzung des ganzen Landes abgeschlossen. Nicht zuletzt aufgrund US-amerikanischer Einflüsse (Präsident Wilson nach/im Ersten Weltkrieg) blieb der verschiedene Charakter der drei Regionen erhalten bzw. verstärkte sich.
Italien unter Mussolini machte Libyen zu einer Siedlerkolonie, nachdem zuerst Kolonialgesellschaften Fuss gefasst hatten. Der Staat baute Kolonistendörfer, mit modernen Häusern, Elektrizität und Wasseranschluss, in denen italienische Familien bäuerlicher Herkunft angesiedelt wurden. Mit staatlicher Unterstützung und billiger einheimischer Arbeitskraft sollten die Betriebe lebensfähig werden und nach Rückzahlung der Vorschüsse in den Besitz der Siedler übergehen. Dem Grossraumdenken Mussolinis entsprechend sollte die Zahl der italienischen Zuwanderer auf eine halbe Million im Jahr 1960 steigen und dann 20 bis 25% der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Mit der italienischen Besetzung brachen Handel und Gewerbe ein. Krieg und Kriegsvorbereitung dominierte die beiden Kolonialkriege und spielte auch nach dem Ende des bewaffneten Widerstands eine bedeutende Rolle. 1938 hatte Italien 40.000 Mann Militär in Libyen; im Mai 1940 waren es 14 Division, rd. 200.000 Mann. Der Vorstoss der Italiener Richtung Suezkanal im Juni 1940 kam jedoch bald zum Stillstand und auch die deutsche Unterstützung (Rommel) im Winter 1940/41 brachte keinen Sieg über die Briten. Nach dem 2. Weltkrieg musste Italien Libyen aufgeben. Für die Alliierten war das Land von strategischer Bedeutung und sowohl die USA wie Grossbritannien errichteten Stützpunkte.
Die Briten richteten nach 1945 in der Cyrenaika eine interne Selbstverwaltung unter König Idris ein. Das gleiche taten die Franzosen unter Ahmad Bey Saif al-Nassir im Fezzan. Tripolitania blieb vorläufig den Italienern, bis die UNO einen Verwaltungsrat unter Führung des UN-Kommisars van Pelt einsetzte. Die UNO überwachte den Weg zur Unabhängigkeit bis Ende 1951, als das Land als „Vereinigtes Königreich von Libyen“ wieder ein souveräner Staat wurde. Der UN-Kommissar Pelt schrieb in diesem Zusammenhang: „Es wäre Übertreibung zu meinen, dass alle Libyer am Unabhängigkeitstag glücklich waren. Zwei Gruppen waren es nicht: Die Vertreter des Unitarismus in Tripolis und die extremen Föderalisten in Benghazi.“
Die keineswegs ergiebige Landwirtschaft hatte durch den Krieg stark gelitten; die Infrastruktur war zerstört. Libyen war in den 1950er Jahren abhängig von Entwicklungshilfe und Budgetzuschüssen. Mit dem Beginn des Erdölverkaufs Anfang der 1960er Jahre wurden Wirtschaft und Gesellschaft völlig umgestellt. Ende der 1950er Jahre hatte die Regierung angekündigt, 70% der Erdöleinkünfte würden für die Entwicklung des Landes eingesetzt – Fehlplanung, Misswirtschaft und Selbstbereicherung der führenden Politiker verhinderten dies. Das Einkommen der Bevölkerung stieg, doch brachte das Erdöl auch eine starke Inflation - die Lebensmittelpreise verdoppelten sich zwischen 1955 und 1967 - und beschleunigte das Wachstum der Städte.
Die Unzufriedenheit vor allem junger Kritiker galt weniger dem König selbst, als der auch von ihm gutgeheissenen Ausrichtung nach den westlichen Industriestaaten. „Nationale Befreiung, Arabische Einheit, Republik“ waren dagegen die Parolen der Opposition. 1969 übernahm eine Gruppe von Offizieren unter Führung von Muammar al-Gaddafi relativ unangefochten die Macht. Libyen war zu dieser Zeit dabei ein Rentenstaat mit einer kleinen Zahl von Einwohnern zu werden, in denen die hohen Erträge aus dem Verkauf von Erdöl, nachdem sich die Oberschicht ausgiebig bedient hat, auch dem einfachen Bürger noch so viel Einkommen aus keiner oder wenig Arbeit liessen, dass der Anreiz für eigene Initiative (oder Kritik) gering blieb. Die Revolution unterbrach diese Entwicklung nicht - sie entmachtete nur eines Teil der überkommenen Oberschicht.
Der Nationale Verteidigungsrat unter Führung Gaddafis orientierte sich weg von den USA Richtung Europa und die arabischen Staaten. Durch eine Reihe von Massnahmen liess er die Bevölkerung an der Verteilung der Ölrente teilhaben: die Ausgaben für Gesundheit und Bildung wurden stark erhöht, die Mindestlöhne angehoben, das Wohnen verbilligt und Mitarbeiter an den Erträgen ihrer Unternehmen beteiligt. Bauern erhielten Land zugeteilt, das aus der Enteignung italienischer Besitzer oder der Sanusiyya stammte und bekamen verbilligt Geräte und Saatgut. Auch der Kleinhandel profitierte von der Zerschlagung grosser Unternehmen, die in den Händen von Ausländern oder von Angehörigen der entmachteten Staatsklasse gewesen waren.
Der persönliche Stil Gaddafis - asketisch, religiös-puritanisch und strebsam – prägte die „Revolution“ und schuf dem „Revolutionsführer“ eine weitgehend unangreifbare Position. Ein ideologisches Konzept aus arabischem Nationalismus, Islam und Sozialismus wurde zur Grundlage seiner Politik. International stiess es die Preisdiskussion auf dem Ölmarkt an und löste die erste grosse Energiekrise mit aus.
Sowohl national wie international schlug Gaddafi neue Wege ein. Libyen wurde zur Arabisch-Libyschen-Sozialistischen Volks-Jamahiriya. Nach der Verfassung sollte das Volk mittels Volkskongressen selbst die Regierung übernehmen, doch lag die Macht letztlich in den Händen weniger, zuletzt allein bei „Bruder Oberst“. International engagierte sich Gaddafi für revolutionäre Bewegungen, agierte kapitalismuskritisch und orientierte sich zunehmend Richtung Afrika.
Libyens unorthodoxer Weg, vor allem aber Gaddafis aussenpolitisches Engagement in Afrika und in der arabischen Welt, erzeugten Widerstand bei einem Teil der Bevölkerung, vor allem aber immer heftigere Konflikte mit weltpolitischen Akteuren. Die USA reagierten zunehmend ablehnend auf Gaddafi, wobei dieser Kurs eng verbunden mit kaufmännischen Überlegungen war: die amerikanischen Erdölgesellschaften, Ende der 1970er Jahre noch immer stark in Libyen vertreten, sahen ihre Profite immer kleiner werden. Schliesslich ernannten die USA Libyen zu einem ihrer „Schurkenstaaten“.
Niedergang und Krise des Landes, die in der Absetzung und Ermordung Gaddafis 2011 gipfelte, waren wesentlich durch drei Faktoren bedingt. Zum einen verlor der Staat durch sinkende Erdölpreise die Mittel, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung abzudecken, zum zweiten nahmen sich die USA und die Natostaaten das Recht, in Libyen nach Belieben einzugreifen, und zum dritten verlor Gaddafi völlig – in Theorie und Praxis – jede Vernunft. Was Gaddafi in den Industriestaaten zum Buhmann oder Verrückten stempelte, das trug ihm in der sogenannten Dritten Welt zuerst die Anerkennung und die begeisterte Anhängerschaft progressiver und vor allem jugendlicher Gruppen ein. Je verwirrender und widersprüchlicher, vor allem aber je expansiver sein Verhalten wurde, desto mehr verlor Gaddafi jedoch seine Anhänger, vor allem in den angrenzenden Staaten südlich der Sahara.
Seit 2011 befindet sich Libyen in einem Zustand der Anarchie, in dem die nie zu einem einheitlichen Staat zusammengewachsenen Regionen und unterschiedliche „Stämme“ (bis hin zum „Islamischen Staat“) einander bekriegen. Letztlich geht es allen darum, möglichst viel vom Reichtum des Landes für sich selbst zu sichern, und die internationalen Unternehmen spielen dabei mit.
Den Preis bezahlen die einfachen Menschen und die grosse Zahl von ImmigrantInnen (bzw. TransmigrantInnen); die Verursacher der Katastrophe – USA, NATO, Erdölgesellschaften, lokale Eliten – bleiben verschont und verdienen teilweise sehr gut in und an dieser Anarchie.