Tschad

«Weder Krieg noch Frieden»

„In Chad, violence is not just part of 'economic regulation' but also part of politics.“ (Debos, Marielle. 2016. Living by the gun in Chad: combatants, impunity and state formation. London: Zed Books, p.  4)

Tschad, flächenmässig der fünftgrösste Staat Afrikas, ist eines der am dünnsten besiedelten Territorien des Kontinents. Die Binnenlage und die unterschiedlichen Naturräume charakterisieren die Wirtschaft; politisch zählt es, aufgrund der Eingliederung in das koloniale AEF (Afrique Équatoriale Française) zur Region Zentralafrika, obgleich der grösste Teil des Landes zur Sahelzone und zur Wüste Sahara gehört. Nur der Süden (Feuchtsavanne) ist landwirtschaftlich ergiebig nutzbar.

Einst war das Tschadseegebiet eine Drehscheibe des innerafrikanischen Handels - Nord/Süd, Ost/West. Grosse Teile des Landes standen unter Kontrolle arabischer oder osmanischer Mächte des Nordens. Im Staatsgebiet liegen einige wichtige politische Zentren des vorkolonialen Afrika (Kanem, Bornu, Baguirmi).

Um 1900 beendete französisches Militär im Tschadgebiet die Besetzung des inneren Westafrika. Der Süden des Tschad wurde lange Zeit mit Oubangi-Chari (heute Zentralafrika) verwaltet; der Norden entzog sich weitgehend der französischen Kontrolle. Zwischen 12. und 14. Breitengrad gibt es eine „Kulturgrenze“, die Ökonomisch, politisch, sprachlich etc. markiert ist und von der Kolonisierung deutlich verstärkt wurde.

Die koloniale Verwaltung konnte sich gegenüber der nomadischen Bevölkerung im Norden nicht durchsetzen – dort bliebe es bei einer französischen Militärverwaltung bis 1965. So bekam eigentlich nur der Süden eine koloniale Struktur übergestülpt, die die nationalen Politiker nach der Unabhängigkeit unsensibel auch auf den Norden ausweiteten.

Wirtschaftlich blieben grosse Teile der Bevölkerung - Viehzüchter wie Bauern - ausserhalb des Marktes. In den 1920er Jahren wurde Baumwolle zum dominierenden Exportprodukt. Die koloniale Verwaltung organisierte unter Einbeziehung lokaler Autoritäten und der Vorschreibung von Kopfsteuern eine staatlich kontrollierte Produktion. Die Vermarktung der Baumwolle erfolgte durch private Gesellschaften mit Monopolstellung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die ersten nationalen politischen Bewegungen. Die „Tschadische Fortschrittspartei“ (PPT, Parti Progressiste Tchadien) trat zur Wahl von 1951 mit dem bezeichnenden Slogan an: „Keine Steuern mehr, keine Baumwolle, keine Chefs“. Unter Führung von François Tombalbaye sicherte sich der PPT in den 1950er Jahren eine Mehrheit der Wählerstimmen und der politischen Posten. Mit der Unabhängigkeit am 11. August 1960 übernahm Tombalbaye die Präsidentschaft. Es kam zur Konzentration der Macht auf den Staatschef und den PPT, ab 1962 Einheitspartei. Die Wirtschaft blieb weitgehend in den Händen französischer Unternehmen und politisch wie militärisch wurde das Land eine ausgeprägte Neokolonie Frankreichs.

Im Tschad erreichte die koloniale Politik noch weniger als anderswo die Bildung einer nationalen Einheit; der wirtschaftliche wie kulturelle Unterschied zwischen Norden und Süden, aber auch starke ethnische Identifikation prägen das politische Leben und bilden neben den divergierenden Machtansprüchen von Politikern und Kriegsherrn den Hintergrund für einen andauernden Zustand von Unsicherheit und bewaffneten Auseinandersetzungen. Für Marielle Debos (Living by the gun in Chad) ist „Ausübung von Gewalt als Teil der sozialen und politischen ‚Normalität‘ zu begreifen.“ Eine mehr positive Sicht hat Sam Nolutshungu („Limits of Anarchy“): „Der schwebende Zustand eines Staates zwischen Noch und Nicht-mehr-Sein, so eine Art verlängerter Ausnahmezustand, begünstigt Anarchie und Gewalt, bedingt aber nicht notwendigerweise den Fall ins totale Chaos. Der Konflikt im Tschad ist nicht unbegrenzt, dem Zufall ausgeliefert, oder total. Es existieren vielmehr Konventionen und Praktiken die eine gewisse Stabilität in der Art des politischen Handelns und der politischen Auseinandersetzung garantieren.“

Der Staat unter der autoritären Regierung Tombalbayes schloss die Elite des Nordens immer mehr von einer Einflussnahme aus. Militär, Gendarmerie und Verwaltung waren weitgehend in den Händen von Leuten aus dem Süden. Steuereinnehmer versuchten Steuern mehrmals zu kassieren, Soldaten ihre Überlegenheit gegenüber der Zivilbevölkerung zu demonstrieren. Der Versuch, die Exportproduktion von Baumwolle durch Zwangsmassnahmen auf das nahezu Siebenfache zu steigern, schlug fehl. Ab Mitte der 1960er Jahren führten verschiedene Fraktionen der FROLINAT (Front de Libération Nationale du Tchad) Krieg gegen die Regierung in Fort Lamy (ab 1973 N’Djamena). Das Regime Tombalbaye konnte sich nur aufgrund der militärischen Unterstützung Frankreich halten.

1975 stürzte die Armee den Präsidenten, der dabei ermordet wurde. Unter Führung des aus dem Gefängnis befreiten General Felix Malloum übernahm ein Offiziersrat (CSM, Conseil Supérieure Militaire) den Aufbau der „Zweiten Republik“.

Die politisch unerfahrenen Militärs standen einer für sie unlösbaren Situation gegenüber. Ein hohes Handelsbilanzdefizit, kurzfristige Schulden des Staates in der Höhe seines Jahresbudgets, und eine ständig schrumpfende Wirtschaft Der Norden und Osten des Landes wurde von verschiedenen rebellierenden Gruppen kontrolliert. Französische coopérants kontrollierten die Schlüsselstellungen der Verwaltung, des Heeres und des Nachrichtendienstes. Die militärischen Ausgaben vereinnahmten einen hohen Anteil des Staatshaushaltes. In den Bereichen Gesundheit und Bildung fehlte es dafür an den notwendigsten Mitteln.

Mitte 1978 übernahm Hissène Habré an der Spitze der FAN (Force Armée du Nord) die Regierung in N’Djamena. Nach bewaffneten Auseinandersetzungen vermittelte Nigeria 1979 (mit Billigung Frankreichs und Lybiens) und brachte 11 Gruppen dazu, eine Regierung der nationalen Einheit (GUNT, “Gouvernement d’Union Nationale de Transition”) zu bilden. Im Sommer 1982 vertrieb Habré die Einheitsregierung aus dem Tschad. Durch die Gründung einer Einheitspartei (Union Nationale pour l’Indépendance et la Révolution) mit dem suggestiven Kurztitel UNIR und die Aufnahme von Vertretern des Südens in die Regierung versuchte Habré seine Position zu festigen. Eine Konsolidierung seiner Macht kam jedoch in erster Linie aus Verhandlungen mit einzelnen Rebellenfraktionen, die – gegen Bezahlung –zur Regierungsseite überwechselten. Habré erreichte nach einigen Jahren Präsidentschaft eine Konsolidierung seiner Macht, wenngleich er weiterhin der Unterstützung der Franzosen bedurfte.

Hinter den Kulissen einer oberflächlichen Demokratisierung und administrativer Effizienz sah es allerdings schlimm aus. Immer häufiger erfuhr die Öffentlichkeit Nachrichten über Folter und Exekution oppositioneller Staatsbürger. Als sich nun der 1989 abgesprungene ex-Armeechef Idriss Deby im November 1990 von Sudan aus zu einer Eroberung N’Djamenas aufmachte, blieb die erhoffte Unterstützung für den Staatschef aus. Habré entflog mit den engsten Mitarbeitern und dem Inhalt der Staatskasse Anfang Dezember ins Exil nach Senegal.

Unter der Regierung von Idriss Deby Itno wurde die Lage im Land stabiler. Deby organisierte mehrfach Wahlen, die ihm und seiner Partei Mouvement pour le Salut de la Patrie (MPS) jeweils den Sieg brachten. Häufige Umbildung der Regierung und bewaffnete Auseinandersetzungen mit Oppositionsgruppen und Rebellen, in denen sich die nationale Armee teils mit Unterstützung der Franzosen durchsetzte, prägten das Bild, ebenso wie Debys Engagement in regionalen Konflikten, die ihm das Wohlwollen Frankreichs und der USA einbrachten. Im Anschluss an die Verfassungsänderung von 2018 wurde eine „Vierte Republik“ verkündet. Zwar versuchte ein Teil der Zivilgesellschaft das Regime in Frage zu stellen und forderte Alternativen, konnte sich gegen den autoritären Herrscher nicht durchsetzen. Im März 2021 starb Deby schliesslich beim Versuch, einen erfolgreichen Schlag gegen Einheiten der Front pour l’alternance et la concorde au Tchad, FACT, zu führen. Die Armee setzt sofort seinen Sohn Mahamat Idriss Déby Itno als interimistischen Staatschef ein.

Mitte der 1990er Jahre hatten die Vorarbeiten zur Nutzung der Erdölvorkommen, deren Vorhandensein seit den späten 1960er Jahren bekannt war, begonnen. Die Weltbank, Esso, Shell und Frankreichs Elf nährten mit ihren Aufschliessungsplänen die Hoffnung auf Frieden und zugleich auf eine Veränderung der regionalen Verteilung von Macht zugunsten der zukünftigen “Ölprinzen”. 2004 wurde erstmals Öl exportiert, doch die Regierung hielt sich nicht an die Abkommen mit der Weltbank, die sicherstellen wollte, dass der Grossteil des Einkommens für Entwicklung und Kampf gegen Armut verwendet werden sollte. Die erwartete wirtschaftliche Sanierung blieb aus.

Bewaffnete Auseinandersetzungen, Krieg und Gewalt, bestimmen das Bild, das die „Tschadologen” von der Geschichte des Territoriums vom 19. bis ins 21. Jhdt. entwerfen. Wir erfahren im Detail, was Kriegsherrn der letzten 150 Jahre an Schlachten, Verträgen, Intrigen und Koalitionen geliefert haben. Sie sind stolze Akteure und Gegner, aber auch Marionetten auswärtiger Mächte. Wie das einfache Volk diese Geschichte erlebt (und überlebt) wird selten sichtbar. Vorteile aus den bewaffneten Auseinandersetzungen, Überfällen und Plünderungen ziehen nur jene, die Führungspositionen und Verhandlungsstärke aufweisen. Bauern, städtische Unterschichten und andere Mitläufer sind höchstens Überlebende der Unsicherheit und Gewalt. Sie haben keine Verhandlungsmacht; manche sind Täter und Opfer zugleich. Die breite Bevölkerung leidet immer wieder unter Versorgungskrisen, Dürre oder Überschwemmungen. Internationale Hilfsorganisationen ersetzen in der Regel das unfähige bzw. unwillige staatliche Krisenmanagement.

 

 

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