Sierra Leone
„Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt alles beim Alten“
Eine Bergkette, die portugiesische Entdecker im 15. Jahrhundert „Löwenberge“ (Serra Leão) nannten, gab dem Kleinstaat – etwa so gross wie Österreich – den Namen und trennt, geographisch wie in der historisch-politischen Entwicklung Sierra Leone in zwei sehr ungleiche Teile.
Diesseits der Berge liegt der Hafen Freetown auf einer Halbinsel, jenseits blieb das Hinterland dem Inneren Westafrikas zugewandt. Ende des 18. Jhdts. begannen englische Kolonisierungsgesellschaften mit der Rücksiedlung befreiter Sklaven bzw. freier in England oder Amerika lebender AfrikanerInnen an diesem Teil der Küste („Province of Freedom“); das Hinterland wurde erst später von Interesse. Dort etablierten sich afrikanische expansive Staaten (Fulbe, Mande) über den einheimischen Kleinstaaten.
Die koloniale Politik unterschied die beiden Teile als Colony und Protectorate; die Halbinsel, isoliert vom Festland, war der Raum für die Entwicklung eines kreolischen Bürgertums, das sich mit England identifizierte und an dessen kolonialem Ausgreifen teilhatte. Die Siedler aus Amerika und Europa waren nicht nur Mittelspersonen im Handel, sondern auch christliche Missionare, die von der Colony Sierra Leone aus Religion und westliche Bildung in das Hinterland und in andere Kolonien brachten. 1896 erklärten die Briten das Hinterland zum Protektorat. Im Protektorat regierten Kolonialbeamte in Zusammenarbeit mit bzw. über die lokalen chiefs; die Verfassung der colony sah eine (bescheidene) Beteiligung des kreolischen Bürgertums an den politischen Gremien vor.
Die koloniale Entwicklung der Wirtschaft führte zu einem deutlichen Gegensatz zwischen Norden und Süden des Protectorate. Der Süden, dessen Bewohner die Briten global als Mende bezeichneten, gewann aufgrund der besseren Aufschliessung wirtschaftlich gegenüber dem Norden und produzierte den Grossteil der agrarischen Exporte, wie Palmöl und Palmkerne, aber auch Kakao, Kaffee und Ingwer, sowie Kolanuss für den afrikanischen Exportmarkt. Aufgrund der Christianisierung besuchten auch weitaus mehr “Mende” als muslimische Temne des Nordens europäische Schulen. Das sozio-ökonomische Ungleichgewicht im Protektorat veränderte sich erst, als die Aufschliessung der Vorkommen von Diamanten und Eisen in den 1930er Jahren andere Regionen bedeutend machte.
Während sich in der Colony mit der Gründung von Parteien, Gewerkschaften und Medien bereits früh eine politische Modernisierung vollzog, blieb das Hinterland bis nach dem Zweiten Weltkrieg den traditionellen oder kolonial bestimmten quasi-traditionellen Autoritäten (Chiefs) überlassen. Diese kooperierte, ebenso wie die Elite der colony, eng mit der britischen Kolonialverwaltung. Der Aufbau nationaler staatlicher Strukturen und die Unabhängigkeit waren Ergebnis einer „einvernehmlichen Entkolonisierung“. Der Gegensatz zwischen den Kreolen und den übrigen Einheimischen liess in Vorbereitung der Wahlen von 1951 zwei Sammelpartei entstehen: der National Council of the Colony of Sierra Leone (NC) und die Sierra Leone Peoples Party (SLPP) unter Führung von Dr. Milton Margai, der erster Regierungschef wurde. Die Briten zogen sich schrittweise zurück und einheimische Politiker übernahmen ihr Amt.
Die Entkolonisierung durch Eliten und Kolonialmacht stellte jedoch die breite Bevölkerung keineswegs zufrieden. In den 1950er Jahren kam es wiederholt zu Aufruhr und Protesten, die sich gegen Verwaltung, Regierung und die libanesischen wie britischen Unternehmer richteten. In den Minengebieten brach durch den Zustrom Zehntausender die Ordnung zusammen; in den Ausgangsgebieten der Migration fehlte es an Arbeitskraft und die Nahrungsmittelproduktion ging zurück. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (statt eines Zensuswahlrechts) verbreiterte sich die Basis für oppositionelle Parteien. Anstelle des alten Gegensatzes zwischen Colony und Protectorate gewann so ab Ende der 1950er Jahre die regionale Zugehörigkeit, Norden oder Süden, Temne oder Mende, an Bedeutung.
Am 27.4.1961 wurde Sierra Leone unabhängig. In den Wahlen von 1962 erhielt Milton Margai mit seiner SLPP eine satte Mehrheit. Nach dem Tod Milton Margais 1964 wurde sein Halbbruder Albert Premier. Die Auseinandersetzung mit der Opposition, geführt von Siaka Stevens und seinem All People‘s Congress (APC), verschärfte sich. Die Kritik der Opposition richtete sich vor allem gegen Korruption in den Reihen der Regierungspartei und gegen die Kontrolle der Wirtschaft durch fremde Unternehmer. In den Wahlen von 1967 siegte der APC. Aufgrund der Weigerung der SLPP, den Wahlsieg anzuerkennen, griff die Armee ein. Erst nach einem weiteren Putsch im April 1968 konnte die neue Regierung unter Siaka Stevens ihr Amt antreten. Unter Stevens wurde Sierra Leone eine Präsidialdemokratie und ein Einparteienstaat. Korruption und gewaltsame Unterdrückung politisch Andersdenkender verschärften sich.
Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre blieb nur noch die “Opposition der Strasse” - in erster Linie Studenten -, die sich gegen Stevens und die Freibeuterbourgeoisie zur Wehr setzte. 1984 schlossen sich den demonstrierenden Studenten Arbeitslose und Angehörige des Subproletariats an, die libanesische und indische Geschäfte plünderten. Während der Minensektor wuchs, schrumpfte die Agrarproduktion. In früheren Jahren ein Exporteur von Reis, musste Sierra Leone ab den 1970er Jahren Reis importieren. Korruption und die die Kontrolle fremden Kapitals über grosse Teile der Wirtschaft nahmen aufgrund einer Politik des offenen Marktes stetig zu. Damit löste Sierra Leones korrupte herrschende Klasse genau jene Frustration und Gewaltbereitschaft vor allem junger Leute mit einer mittleren Schulbildung aus, die in den grausamen und selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre zutage traten.
1985 zog sich der 80jährige Stevens zurück und überliess sein Amt dem Generalmajor Joseph Momoh. Damit wollte er Einfluss behalten und sich vor einer Korruptionsklage schützen. Im März 1991 drang eine kleine Gruppe von in Libyen ausgebildeten Rebellen - sie bezeichneten sich als RUF, Revolutionary United Front, und standen unter Führung von Foday Sankoh – von Liberia in Sierra Leone ein, terrorisierten die Bevölkerung und demoralisierten die schlecht ausgerüstete und unmotivierte Armee. Trotz der unsicheren Lage brachte die Demokratisierungsdiskussion 1991 die Wiedereinführung des Mehrparteiensystems. Ende April 1992 übernahm dann die Armee unter Führung von Hauptmann Strasser die Macht. Die neuen Machthaber versuchten die bestehenden Verhältnisse zu ändern, hatten allerdings weder die Erfahrung noch die notwendige Unterstützung für eine Regierung der Erneuerung. 75% des Staatshaushaltes gingen für den Kampf gegen die Rebellen auf; die Wirtschaft erlitt immer mehr Schaden, nicht zuletzt weil der Grossteil der Kämpfe in jenen Regionen abliefen, in denen Diamanten und Gold abgebaut wurden. Das Land versank immer mehr in Anarchie.
1996 wurde gewählt. Der neue Präsident hatte keine Chance sich durchzusetzen. Rebellen, Söldner, Milizen, deren Ausbildung die neue Regierung finanzierte, und die nigerianischen “Friedensstreitkräfte” der ECOWAS lieferten einander einen Kampf, der durch “hit and run” Taktiken und durch Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung geprägt war. 1999 kam es zu einem Friedensabkommen. 12.000 Mann der Friedensmission der UNO- ab Ende März 2001 wurden sie auf 16.000 aufgestockt - bemühten sich um Entwaffnung und Reintegration von Rebellen - allmählich besserte sich die Lage. Während die Truppen der UNO reduziert wurden, kehrte in Freetown die „Normalität“ ein. Wieder - oder noch immer - verteilten Politiker ihre Pfründe. Korruption, politische Gewalt und joint ventures mit ausländischen Investoren gehören ebenso zum Alltag wie das Funktionieren des libanesischen Gross- und Detailhandels. Die Wirtschaft verzeichnete aufgrund des Abbaus von Eisen, Rutil, Gold und Diamanten hohe Zuwächse.
Die Zeit nach dem Friedensschluss 2002 war wohl ausgezeichnet durch mehrmaligen Regierungswechsel unter korrekten Bedingungen, doch keine der beiden regierenden Parteien SLLP (Sierra Leone People’s Party) bzw. APC (All People’s Congress) und vor allem die zugehörigen Präsidenten – Ahmad Tejan Kabbah (1996-97, 1998-2007), Ernest Bai Koroma (2007-2018) und Maada Bio (seit 2018) –setzten bislang effizient die angekündigten Entwicklungsmassnahmen um. Korruption bleibt endemisch und jeder neu ins Amt gekommene Staatschef macht seinen jeweiligen Vorgänger für alle Übel verantwortlich. Einzig für die Ebola Epidemie, die 2014-15 etwa 4.000 Tote forderte und die Wirtschaft um 20% einbrechen liess, kann die Regierung nicht verantwortlich gemacht werden.
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