La Réunion

La Réunion – région ultrapériphérique

Ab 1640 als Ile Bourbon in französischem Besitz, wurde die Insel anfangs durch die Compagnie des Indes orientales verwaltet, die ihre Kolonisatoren unter Abenteurern ohne Skrupel, Marginalisierten und Hoffnungslosen rekrutierte. Bis ins 19. Jhdt. profitierten die Pflanzer vom Anbau einer gut nachgefragten Kaffeesorte. Neben Kaffee produzierte und exportierte Réunion Grundnahrungsmittel: Weizen, Mais, Reis, Maniok und dazu Gewürze wie Muskat und Nelken. Die Insel war auch ein Versorgungsstützpunkt für die Schifffahrt.
Mit dem Verlust von Haiti und Mauritius entstand für Frankreich die Notwendigkeit, Réunion auf Zuckerproduktion umzustellen. Einige Grossgrundbesitzer vereinnahmten den fruchtbaren Boden in tiefen und mittleren Lagen für Zuckerplantagen, während die kleinen und mittleren Bauern immer weiter ins Hinterland verdrängt wurde. Nach dem Verbot der Sklavenhaltung 1848 kam es zur Anwerbung von Kontraktarbeitern und Konzentration der Zuckerproduktion auf wenige grosse Unternehmen. Der Zustrom von Arbeitskräften aus Indien und Madagaskar veränderte auch die Ernährungslage. Während die Versorgung der afrikanischen Sklaven auf der Grundlage von Mais erfolgt war, wurde nun Reis, importiert aus den südostasiatischen Kolonien Frankreichs, zur Grundlage der Ernährung.
Die Plantagenwirtschaft schuf sozial, wirtschaftlich und räumlich getrennte Bevölkerungsgruppen: Besitzer von Plantagen und Zuckermühlen (gros blancs), kleine Pflanzer und Bauern (tiblancs), eine kreolische Mittelschicht mit Aktivität in Gewerbe, Handel und Verwaltung und die Nachfahren der indischen Vertragsarbeiter. 1979 zählten ca. 30% der Gesamtbevölkerung zur „weissen” Gruppe, deren kleinerer Teil das politisch und wirtschaftlich dominierende Bürgertum stellte, deren Mehrheit aber die petits blancs ausmachten, die sich wirtschaftlich und sozial nur wenig vom grössten Bevölkerungsteil (37%), den Kreolen oder Réunionnais, unterschieden. Beide Gruppen distanzieren sich von den später Gekommenen: Kafs (cafres, Nachfahren der Sklaven vom Festland, Madagaskar und den Komoren), malbars (Kontraktarbeiter aus Südasien), zarabs (muslimische Immigranten aus Nordindien) und sinwas (chinesische Zuwanderer). Eine besondere Stellung kommt den Immigranten auf Zeit aus der Metropole (les zoreils) zu, deren Zahl insbesondere nach 1946 stark angestiegen ist.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs bemühte sich Frankreich um eine „Inwertsetzung“ seines kolonialen Imperiums. Réunion hatte in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung bedeutenden Vorsprung vor den afrikanischen Subimperien. Die Nachfrage nach Zucker förderte den Aussenhandel und Réunion exportierte 1926 dem Wert nach um die Hälfte mehr als die 3 Mio. km2 grosse Föderation Französisch-Äquatorialafrika. Dazu hatte Réunion bereits seit 1870 Abgeordnete in der Nationalversammlung und im Senat in Paris, was auf dem Kontinent sonst nur die quatre communes Senegals in Anspruch nehmen konnten.
Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer Blockade durch die Alliierten, da sich die Kolonialregierungen im Indischen Ozean für das mit den Deutschen kollaborierende Vichyregime entschieden. 1946, mit der Neuaufstellung des französischen kolonialen Imperiums, wurde Réunion ein Übersee-Département (DOM, Département d'Outre-Mer); die einseitige Ausrichtung auf die Produktion von Zucker blieb bestehen, ebenso wie die enge wirtschaftliche Bindung an Frankreich.
Waren die Réunnionais auch französische Bürger, so brauchte es doch lange Zeit, bis sie den Bürgern der Metropole gleich gestellt waren. Die Einwohner waren zwar „citoyens français à part entière“, doch war damit keineswegs eine echte Gleichstellung verbunden, auf jeden Fall nicht für jene, die zur farbigen Gruppe der Bürger zählten und aus den Reihen der Kleinbauern oder Arbeiter kamen. Réunion blieb de facto eine französische Kolonie.
Die politischen Parteien bildeten weitgehend das Muster in Frankreich ab, doch behielt die Kommunistische Partei von Réunion (PCF) trotz grossen Widerstands bis heute Einfluss und Bedeutung. Bürokratie und konservative Politiker waren in den 1960er und 70er Jahren verantwortlich für manipulierte Wahlen. Demonstrationen und Missfallensakte der Opposition wurden von Polizei und Armee gewaltsam unterdrückt, missliebige Personen in politischen Prozessen verurteilt oder ausgewiesen bzw. versetzt, wenn es Beamte waren.
Auf Réunion kam es als Folge einer anderen Kultur der sozialen Beziehungen und der französischen Kolonialpolitik zu keinen Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen wie auf Mauritius. Die politischen und sozialen Auseinandersetzungen gingen (und gehen) vielmehr von der sozio-ökonomischen Ungleichentwicklung aus. Arbeitslosigkeit wurde zum Hauptproblem der Bevölkerungsmehrheit. 1987 waren 73.000 oder 35% der Bevölkerung im modernen Sektor ohne Arbeit, und die Tendenz blieb, trotz Regierungsinvestitionen, gleich oder sogar steigend. Ende der 1970er Jahre erhielten 3/4 der Bevölkerung staatliche soziale Unterstützung.
Die Regierung in Paris, vor allem aber der gaullistische Abgeordnete Michel Debré, der von 1963 bis in die späten 1980er Jahre das Geschehen auf Réunion bestimmte,  versuchte durch geplante Emigration die politische Gefahr, die von der Arbeitslosigkeit ausging, zu verringern. Eine Verbesserung der Lage für die Verbliebenen ergab sich jedoch nicht. Vor allem waren es jugendlichen Schulabsolventen, die sich mit Unterstützung linker Parteien und liberaler Medien (Radie Free Dom) gegen die konservative Politik stellten. Immer wieder kam und kommt es, wie zuletzt 2018 im Rahmen der Bewegung der Gelb-Westen, zu teils gewaltsamen Protesten. Die Diskussion um Unterstützung und Sozialhilfe beherrscht bis heute die öffentliche Szene. Jedes Jahr suchen doppelt so viele Jugendliche Zugang zum Arbeitsmarkt als neue Stellen geschaffen werden.
Frankreich setzte ab 1991 vermehrt auf Bildungsmassnahmen, den Bau von Wohnungen, Ausbau der Infrastruktur, die breite Auszahlung von Sozialhilfe und die Einführung einer Autonomie. So ersetzte u.a. der Präsident des lokal gewählten Conseil général den Präfekten als Chef der regionalen Regierung, doch immer deutlicher stieg das Bewusstsein für diskriminierende Verhältnisse, die sozial schwache Gruppen, vor allem junge Menschen, von der Oberschicht und den Zuwanderern aus der Metropole unterschieden. So kam es immer wieder zu gewaltsamen Protesten. Die Bevölkerung begann sich dennoch mit einem Verbleib bei Frankreich abzufinden. Dazu trug wohl auch bei, dass sich die Bevölkerung der relativ günstigen Lebenssituation bewusst wurde – ganz im Unterschied zu benachbarten afrikanischen Staaten und Mayotte.
Ghislaine Bessière, Soziologin und Präsidentin von Rasine Kaf, einer Organisation die für die Anerkennung einer „schwarzen“ (Kaf) Identität kämpft, sagte in einem Interview mit MIGRAZINE (Migrazine.at, 2012/2): „Frankreich nimmt sich heraus zu sagen: ‚Wir sind hier in Frankreich, in einer Region Frankreichs wie jeder anderen auch‘ – aber das ist falsch. La Réunion ist nicht irgendeine französische Region, die Insel ist historisch mit den Inseln rundherum eng verbunden. Administrativ gesehen sind wir vielleicht in Frankreich – geografisch gesehen jedoch nicht.“

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