Sao Tome e Principe
São Tomé & Príncipe: Inseln der Illusionen
(ein Zitat aus einem Bericht von Andreas Lesti / Spiegel Online 17.10.2008)
1471/72 nahmen die Portugiesen die beiden Inseln – bis dahin wahrscheinlich unbewohnt – als zweite Kolonie nach den Kapverden in ihren Besitz. Die Besiedlung der Inseln durch deportierte Gefangene (degredados), 2.000 jüdische Kinder, die der Staat den aus Spanien vertriebenen sephardischen Familien weggenommen hatte, und afrikanischen Sklaven war der Beginn einer neuen Gesellschaft. Einige Adelige und deren Nachkommen – nicht selten aus einer Lebensgemeinschaft mit Afrikanerinnen – bildeten die Oberschicht. Die Nachfahren verarmter Gutsbesitzer, portugiesischer Einwanderer und afrikanischer Mütter, die filhos-da-terra, stellten gemeinsam mit freigelassenen (forros) Sklaven die einheimische Bevölkerung. Dazu kamen Sklaven, und nach dem Ende der Sklaverei 1869 eine steigende Zahl von Kontraktarbeitern aus Nigeria.
Während der „ersten Kolonisierung“ exportierten die Inseln vor allem Zucker nach Europa. Bis zu 12.000 t produzierten sie Ende des 16. Jahrhunderts. Mit dem 17. Jahrhundert wanderten die Grossgrundbesitzer und das portugiesische Kapital nach Brasilien ab, wo Gewinne leichter zu erzielen waren. Erst nach dem Verlust der Kolonie Brasilien (1822) und mit der abnehmenden Bedeutung des Sklavenhandels errichteten die Portugiesen erneut Plantagen, auf denen vor allem Kakao und Kaffee produziert wurden: die „zweite Kolonisierung“ begann.
Als Folge der Sklavenbefreiung verarmten die kreolischen Pflanzer, deren Land Portugiesen zu billigen Preisen und oft unter Anwendung von Betrug und Gewalt erwarben. Waren 1872 noch 96 von 153 Landbesitzern filhos da terra, so besassen die Portugiesen 1898 bereits 90% des Bodens. Die Plantagen produzierten neben Kakao auch Kaffee, Kopra und Palmöl; die Produktionsweise veränderte sich nach dem Ende der Sklavenwirtschaft nur wenig und die Rentabilität war im Vergleich mit anderen kakaoproduzierenden Regionen niedrig. 1875 begann die portugiesische Verwaltung Kontraktarbeiter, serviçais, auf dem afrikanischen Festland anzuwerben. Im Jahr 1900 betrug die gesamte Bevölkerung rund 42.100, wovon 19.430 Einheimische, 21.510 serviçais und 1.190 „Weisse“ waren. Gab es Anfang der 1880er Jahre 21 grosse Plantagen über 100 ha (roças) so wurde es bis in die 1890er Jahre 63, von denen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit noch 55 bestanden. Insgesamt 200 roças teilten sich Anfang der 1970er Jahre das fruchtbare Gebiet der Inseln.
Ende des 19. Jahrhunderts war São Tomé mit einem Anteil von 11,5% der Welt bedeutendster Kakaoproduzent. Die Kakaomonokultur prägte Wirtschaft und Gesellschaft der Inseln ebenso wie seine Landschaft. Die schlechte Behandlung von Plantagenarbeitern durch die Latifundienbesitzer bzw. ihre Verwalter gab im angelsächsischen Raum Anlass zu öffentlichen Protesten. Der Journalist Henry Nevinson (A Modern Slavery, London 1906) bewog den Schokoladeproduzenten William Cadbury zum Boykott des „Sklavenkakaos“. Das zwang die Portugiesen 1909 den Vertragsarbeitern die Rückkehr zu ermöglichen. Die Kontraktarbeiter stellten zu diesem Zeitpunkt mit über 35.000 mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Dazu kamen fast 7.000 im Land geborene Nachkommen dieser Einwanderer (tongas).
Nach 1909 warben die Verwalter der landwirtschaftlichen Grossbetriebe Arbeiter auf den Kapverden an oder verschafften sich Strafgefangene aus Moçambique. Die Kapverder waren in ihrem rechtlichen Status ebenso wie die einheimische Bevölkerung der Inseln den Portugiesen gleichgestellt. Sie kamen häufig mit ihren Familien und bildeten eine eigene soziale Gruppe. Die übrigen Migranten und ihre Nachkommen gehörten wie die Mehrheit der kolonisierten Bevölkerung Afrikas zur entrechteten Klasse der indígenas, der „Eingeborenen
Die Konkurrenz kakaoproduzierenden Kolonien auf dem Festland und die hohen Kosten der Arbeitskraft führten zu einer Krise der Plantagenwirtschaft. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stiegen die Exportmengen wieder bis auf über 11.000 t, ohne jedoch die Rekordmengen aus den 1910er Jahren zu erreichen. 1968 bildeten sie über 80% der Exportwerte – ein Anteil, der bis in die Gegenwart erhalten blieb, obgleich sich die Menge drastisch auf 3.000 bis 4.000 t reduzierte.
Das faschistische Regime des estado novo (1930 bis 1974, unter Salazar und Caetano) brachte eine straffe, autoritäre Verwaltung der Kolonien (ab 1951 unter dem Namen “Überseeprovinzen“) und liess keine nationalistischen, antikolonialen Bewegungen zu. Die einheimische Intelligenz, eine kleine Gruppe, formulierte ihren Protest gegen Kolonialismus und Grossgrundbesitzer ab 1953 vor allem im Exil. 1960 entstand der „Ausschuss zur Befreiung von São Tomé und Príncipe“ (CLSTP, Comissão de Libertacão de São Tomé e Príncipe) und wurde 1964 von der „Organisation der Afrikanischen Einheit“ (OAE) als Befreiungsbewegung anerkannt. Der Spanischprofessor Miguel Trovoada leitete die Niederlassung des CLSTP in Libreville. 1972 wurde aus dem „Ausschuss“ eine „Befreiungsbewegung“: der MLSTP (Movimento de Libertação de São Tomé e Príncipe) unter Führung von Manuel Pinto da Costa, einem in der DDR ausgebildeter Ökonomen.
Nach dem Sturz des Regimes Caetano Ende April 1974 wollte sich Portugal so rasch als möglich seiner kolonialen Verantwortung entledigen. Der MLSTP meldete, unterstützt von Gabun, seinen Anspruch an, der legitime und zudem einzige Verhandlungspartner Lissabons in der Vorbereitung der Unabhängigkeit zu sein. Viertägige Verhandlungen in Algier brachten Ende November ein Übereinkommen und am 12.7.1975 erklärten die Inseln ihre Unabhängigkeit. Pinto da Costa wurde Präsident und Miguel Trovoada Premierminister. Die neue Führung optierte für ein sozialistisches Modell des Staates und der Gesellschaft. Der MLSTP wurde zur Einheitspartei der „Demokratischen Republik.
Die Abhängigkeit vom Export von Kakao blieb; die Verstaatlichung der Plantagen war allerdings ein Fehlschlag und die Produktion brach ein. Die Arbeiter der grossen Agrarbetriebe verlegten sich auf die Subsistenzproduktion. Die Wirtschaft schlitterte in eine Krise, die São Tomé e Príncipe völlig von internationalen Geldgebern abhängig machte. Statt die Entwicklung des Staates zu finanzieren, wurden die Plantagenbetriebe zu Schuldnern der Nationalbank. Es kam zu Arbeitslosigkeit. Die Verschlechterung bei den Deviseneingängen erzwang eine Kürzung der Importe. Die Lebensmittel wurden rationiert und die Preise stiegen. In der Bevölkerung wuchs die Unzufriedenheit und Ende 1981 kam es auf Príncipe zu einer Hungerrevolte und der Ankündigung einer Sezession. Portugal, Frankreich und andere Geberländer mussten die Defizite im Staatshaushalt decken.
Über kurz, und mit geringem Aufwand, war dem MLSTP die absolute Herrschaft über die 80.000 Einwohner der beiden Inseln zugefallen. Sicherheitsdienst und Volkspolizei, Kontrolle des öffentlichen Diskurses und verschiedene Organisationen der Partei übernahmen die Rolle der kolonialen Institutionen. Die Bevölkerung war eine autoritäre Herrschaft gewohnt, applaudierte seinem Präsidenten, stellte jedoch bald fest, dass den nationalen Politikern die Sicherung der eigenen Position wichtiger war als das Wohlergehen des Volkes. Dazu kamen Konflikte zwischen den beiden Spitzenpolitikern Pinto da Costa und Trovoada.
Unter dem Druck der Geber von Entwicklungshilfe kam es in den 1980er Jahren zu einer schrittweisen Liberalisierung. Weltbankkredite finanzierten die Reorganisation der Kakaoplantagen durch ausländisches Management. Privatisierung und Strukturanpassungsmassnahmen begünstigten die politische Elite, erschwerten aber die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Das machte sich bemerkbar als 1990 ein Mehrparteiensystem eingeführt wurde. Mit 80%iger Wahlbeteiligung verdrängte die Oppositionspartei PCD (Partido de Convergencia Democratica - Grupo de Reflexao) den MLSTP als Regierungspartei. Seit dem Ende des Einparteiensystems wechselten sich Angehörige der kleinen politischen Elite in der Führung des Staates immer wieder ab; der Wahlsieg von Movimento de Libertacao de Sao Tome e Principe/Partido Social Democrata (MLSTP/PSD) im Dezember 2018 war der siebte friedliche Wechsel einer Regierungspartei seit 1991. Wie in demokratischen Staaten anderswo, von den USA bis Österreich, folgte der Einsetzung der neuen Regierung sofort die Rückgängigmachung einer Reihe von Massnahmen, die die frühere Regierungspartei gesetzt hatte, und zugleich die Umbesetzung von Führungsfunktionen. Die Politik des Landes blieb dabei weitgehend unverändert.
Das Budget des Landes finanzierte sich zu 80 bis 90% aus fremden Mitteln. Die Gruppe der Partner war breit gestreut – vor allem bemühte sich die Regierung um Süd-Süd-Partnerschaften, auch wenn die bedeutenden Mittel von EU, USA oder den Internationalen Organisationen kamen. Die einzelnen Regierungschefs setzten dabei unterschiedliche regionale Schwerpunkte. Besonderes Geschick zeigten die Politiker im Umgang mit den beiden China. Präsident Miguel Trovoada nahm 1997 diplomatische Beziehungen mit Taiwan auf, ein beständiger und wichtiger Finanzier des Landes wurde. 2016 nahm sein Sohn Premier Patrice Trovoada dann überraschend diplomatische Beziehungen zu Peking auf (Anerkennung des „Ein-China-Prinzips“) und brach mit Taiwan. Die erwarteten Verbesserungen stellten sich allerdings nicht so ein wie es die Regierung erhofft hatte.
Mit Ende der 1990er Jahren zeichnete sich eine neue Entwicklung ab: Erdöllagerstätten und Gasvorkommen im Bereich der Tiefsee, zwischen 1.000 und 3.000 m, sollten endlich nationalen Reichtum bringen. 1997 unterzeichnete die Regierung den ersten Aufschliessungsvertrag und klärte die Frage der Nutzungsgrenzen mit Gabun und Äquatorialguinea. Zwischen Nigeria und Príncipe kam es zur Gründung einer gemeinsamen Verwertungsgesellschaft (Joint Development Authority, JDA) mit Sitz in Abuja. „Wir haben Öl gefunden, und jetzt sind wir umringt von Haifischen“ sagte Präsident Menezes angeblich 2003 in einem Telefongespräch, in dem er Jeffrey Sachs um Unterstützung für das Management des erwarteten Ölbooms ersuchte. Bis 2021 stiess allerdings keine Ölgesellschaft auf abbauwürdige Vorkommen und um das Ölgeschäft wurde es still. Nun liegen die Hoffnungen wieder auf Kakaoproduktion und Tourismus. Beides sichert lokalen Eliten und ausländischen Unternehmen einen kleinen Reichtum – die Bevölkerung bleibt davon ausgeschlossen. Zwei Drittel der Bevölkerung gelten als arm, davon ein Drittel als extrem arm (1.90 US-$ pro Tag).
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