Niger

 

Vom Kernland transkontinentalen Handels zur globalen Peripherie

Niger ist ein Binnenstaat mit einem hohen Anteil an Sahel und Sahara. Ökologisch ist er geprägt vom Kontrast zwischen Nigerbecken und Tschadsee im Süden, Wüste im Norden. Wichtige vorkoloniale Handelswege durchziehen diesen Raum bzw. Kreuzungspunkt der Ost-West und der Nord-Südachse. Er war und ist ein Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen den Ökonomien der Hirten (Krieger, Räuber, Händler) und der Bauern (Handwerker). Handel und Islam sind einigende Komponenten; damals wie heute bringt der Transport von Menschen nach Libyen hohe Profite.

Die Kolonisierung durch französische Truppen erfolgte unter Einsatz brutaler Gewalt. Im mittleren und nördlichen Teil konnte sich die Kolonialmacht nur schwach durchsetzen; im Süden blieb der Einfluss Nigerias immer sehr stark.

Die Kolonie lieferte zum einen Arbeitskraft, zum anderen Baumwolle und Erdnüsse. Rigorose Massnahmen der kolonialen Administration brachten teilweise Bilanzüberschüsse, lösten aber auch Hungersnöte und Aufstände aus. Die koloniale Modernisierung bzw. Vereinnahmung durch Wirtschaft und Bildung blieb auf den Süden beschränkt; der Norden entzog sich auf zumindest zweifache Weise: Nomadismus und Islam.

Die Jahre von 1945 bis 1968 brachten Niger eine relativ stetige Entwicklung der Landwirtschaft. Voraussetzung dafür waren ausreichend Regen und eine günstige weltwirtschaftliche Lage, die sich bis in die Peripherie auswirkte. Die Expansion und die staatlich gesteuerte Entwicklung beschränkten sich jedoch weitgehend auf die Ausweitung der Erdnussproduktion und die Erzeugung von Schlachtvieh für die westafrikanischen Küstenstaaten. Die koloniale - und in ihrer Fortsetzung die nationale - Wirtschaftspolitik trugen das Ihre dazu bei, die Dürre und die Hungerkatastrophe, die Ende der 1960er Jahre einsetzten, in ihrer Wirkung zu verstärken. Frankreichs Investitionen in die Kolonie blieben auch in dieser Zeit gering.

In den 1950er Jahren setzten sich konservative Parteien mit Unterstützung Frankreichs und der traditionellen Elite durch. Hamani Diori regierte de facto einen Einparteienstaat schon vor der Unabhängigkeit in 1960; daraus folgten eine Präsidialdiktatur und die Machtübernahme durch Militärs. Mangelnde Basis und Entwicklung der Zivilgesellschaft erschweren bis heute eine effiziente Demokratisierung. Präsident Mahamadou Issoufou zog sich immerhin nach zwei Regierungsperioden zurück und ihm folgte nach Wahlen 2020/21 der frühere Innenminister Mohamed Bazoum. Proteste wurden niedergeschlagen und ein Putschversuch von Armeeeinheiten abgewehrt.

Die verstärkte Einbindung in die französische Wirtschaft begann 1966, als Prospektoren 250 km nördlich von Agadez grosse Uranvorkommen entdeckt. 1971 begann der Export von Urankonzentrat. Die Entdeckung weiterer Vorkommen und steigende Preise - als Folge der Verteuerung von Erdöl - erweckten grosse Hoffnungen für eine wirtschaftliche Prosperität des Landes. Mit den 1980er Jahren war der kurze Aufschwung allerdings zu Ende. Der Zusammenbruch von Preis und Nachfrage bei Uran angesichts der weltweiten Krise im Bereich der zivilen Nutzung der Atomkraft war ein harter Schlag für Nigers Ambitionen. Aus der optimistischen Einschätzung der Wirtschaftsentwicklung resultierte eine überdimensionierte Verschuldung.

Die „Welle der Demokratisierung“ in den 1990er Jahren brachte keine entscheidende Wende. Die Regierungen in Niamey blieben schwach und abhängig von fremder Unterstützung. Mit über 60% der Bevölkerung unterhalb der extremen Armutsgrenze und dem letzten Platz im Human Development Index (HDI) der UNDP ist Niger ständig angewiesen auf Entwicklungshilfe und Entschuldung im Rahmen der globalen Massnahmen. Es hat eine der niedrigsten Alphabetisierungsraten weltweit und das Gesundheitssystem weist grosse Mängel auf.

Im Süden bedrohen Boko Haram und Islamisten aus Mali Bevölkerung und staatliche Institutionen. Im Norden kontrollieren Kriegsherrn und Schlepper das einträgliche Geschäft mit MigrantInnen. Die EU finanziert mit hunderten Millionen Euro Alternativen zu und Kampf gegen die Migration. Die Zahl der über Agadez verbrachten AfrikanerInnen sank von 298.000 in 2016 auf 50.000 in 2018. Damit brach allerdings auch die lokale Wirtschaft zusammen, die von den Migranten lebt.

Für den international bekannten Musiker Mdou Moctar – ein Tuareg - ist Europa, insbesondere Frankreich, daran schuld, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Niger nicht voran  geht. „For 48 years France has exploited the uranium in our country, and yet we still don’t have roads, medicines and in many places there is no water or electricity,” he says. “France says we are independent now but we have no independence, we are modern slaves. They say this is an Africa problem, but we have had enough of what France is doing to us; it’s as if we’re still in the 15th century.” (https://www.theguardian.com/music/2019/mar/21/we-are-modern-slaves-mdou-moctar-the-hendrix-of-the-sahara, 31.07.2019)

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