Tunesien

Ein konservativer Professor der Rechte an der Spitze des Staates

Das Land stellt ein kompaktes Territorium zwischen Mittelmeer und Sahara dar; mit 164.000 km2 ist es für afrikanische Verhältnisse ein Kleinstaat.
Die Beyschaft Tunis war nominell ein Teilstaat des osmanischen Reiches, doch agierte die osmanische Oberschicht relativ selbständig. Frankreich sicherte sich in Konkurrenz mit Italien den Einfluss über die Beyschaft, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr bei europäischen Geldgebern verschuldete.
Frankreich richtete eine indirekte, primär wirtschaftliche Kolonisierung über Kolonialgesellschaften und Banken ein. Dazu kam eine Kolonisierung durch italienische Zuwanderer. Die einheimischen Oberschichten wurden seit dem Ersten Weltkrieg in koloniale politische Institutionen integriert, hatten aber keinen effektiven Einfluss auf das Geschehen.
Die koloniale Wirtschaft war ausgerichtet auf Landwirtschaft, wobei sich eine deutliche Veränderung in den Besitzverhältnissen – vom Gemeinbesitz zum individuellen Grossgrundbesitz – ergab. Bereits in der Zwischenkriegszeit wurde auch begonnen die vorhandenen mineralischen Bodenschätze abzubauen.
Die städtischen Oberschichten integrierten sich, über französische Schulen und wirtschaftliche Zusammenarbeit rasch in die koloniale Gesellschaft. Es kam dabei auch schon bald zu einer starken nationalen Bewegung in Verbindung mit den Destour-Parteien.
Die nationale Bewegung wurde während des Zweiten Weltkriegs unterdrückt, fand jedoch mit Kriegsende rasch wieder zur alten Stärke zurück; wichtig war dabei die Gewerkschaftsbewegung, während der Bey und der Hof eine recht geringe Rolle spielten. Nach einer kurzen bewaffneten Auseinandersetzung kam es zu einer reibungslosen Machtübergabe und bald darauf zur Beseitigung der Monarchie und der Errichtung einer „Präsidialmonarchie“ rund um Habib Bourguiba, Nationalheld seit den 1930er Jahren. Den westlichen Staaten galt Tunesien als stabiles Land und prosperierender Wirtschaftspartner. Das hing nicht zuletzt mit der Person des Staatschefs zusammen. Bourguiba sicherte seine Autorität durch internationale Kooperation, Personenkult und häufige Eingriffe in die Zusammensetzung der politischen Führung. Selbst die Gewerkschaft als aufrechter Gegner schwenkte letztendlich auf den bürgerlichen Kurs ein.
Wirtschaftlich wurde ab den 1970er Jahren neben der Landwirtschaft und dem Bergbau die industrielle Produktion - Lohnfertigung für Firmen des Nordens - und der Tourismus von Bedeutung.
General Ben Ali, seit 1977 Geheimdienstchef und Koordinator der bewaffneten Kräfte im Kampf gegen Demonstranten und „subversive Elemente”, löste 1987 den Kranken Langzeitpräsidenten ab und führte dessen Politik im eigenen Interesse fort.
Von allen afrikanischen Staaten zeigt Tunesien den höchsten Grad von Verwestlichung; darum wurde es wohl auch als erster 1998 an die EU assoziiert. Wirtschaftlich wie politisch verschlechterte sich die Lage ab den 1990er Jahren immer deutlicher. Die Abhaltung von Wahlen in einem Mehrparteiensystem änderte wenig an der Dominanz der „Staatspartei“ und der autoritären Führung.

Im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ kam es 2011 zum Sturz und der Vertreibung von Ben Ali. Die grossen Erwartungen, die die Bevölkerung in die „Revolution“ setzte, erfüllten sich nicht wirklich. Demokratie und freie Wahlen brachten vor allem für die Bevölkerung des Hinterlands und die jungen Menschen keine Besserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage.
Im Oktober 2019 wählten nur knapp über 41% der Wählerschaft ein Parlament, in dem die konservativ-islamistische Ennahdha zwar eine relative Mehrheit bekam, die Sitze jedoch über eine grosse Zahl von Parteien verteilt wurden. Bei den Präsidentenwahlen siegte der Ennahdha nahestehende Kais Saied mit fast 73%:
Am 13.10.2019 schrieb die Redaktion der Deutschen Welle: „Der parteilose Saied ist ein bekannter Verfassungsexperte, hat aber keinerlei Regierungserfahrung. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems. Er setzt sich für ein dezentralisiertes Regierungsmodell mit mehr Demokratie auf lokaler Ebene ein. Saied ist zudem für seine erzkonservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt, etwa im Umgang mit Homosexualität, die in Tunesien mit Haftstrafen geahndet werden kann“
(https://www.dw.com/de/kais-saied-ist-tunesiens-neuer-pr%C3%A4sident/a-50817005)

Im Juli 2021 bescherte der Verfassungsexperte dem Land ein politisches Chaos: er entliess Regierungschef Hichem Mechichi und  suspendierte das Parlament mit dem Argument eines Kampfes gegen Korruption. Für die Opposition war es ein Staatsstreich - Kaïs Saïed verteidigte sich mit dem Argument: „In meinem Alter strebe ich keine Karriere als Diktator mehr an.“ (New York Times)

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