Rwanda
„Rwanda is a clear case of hegemonic authoritarianism“ (Philip Reyntjens)
Mit 26.338 km2 ist Rwanda flächenmässig einer der kleinen Staaten am Kontinent. Seine Landesgrenzen decken sich teilweise mit vorkolonialen Staatsgrenzen. Das Königreich Rwanda wurde zu Beginn der Kolonialzeit durch die katholische Mission und deutsche Kolonialverwaltung in seiner Expansion einerseits gefördert, anderseits endete mit der kolonialen Besetzung seine Souveränität. Das gebirgige Land – zwischen 950 und 4.500 m Höhenlage – ist Heimat für knapp 13 Mio. Menschen (2021) und seine Wirtschaft geprägt durch die extreme Binnenlage.
Die deutsche „Schutzherrschaft“ blieb relativ oberflächlich; es zeichnete sich jedoch bereits in der frühen K0lonisierung die Tendenz der Europäer ab, mit der Elite – gleichgesetzt mit der „ethnischen“ Charakterisierung als „Tutsi“ – gegen die Mehrheit der Bevölkerung (als „Hutu“ benannt) zu kooperieren. Mit der Übernahme durch Belgien als Mandat des Völkerbundes (ab 1919) verstärkt sich Einfluss der katholischen Mission weiter. Für die Belgier war Ruanda-Urundi ein peripheres Gebiet des Kongo, aus dem Arbeitskräfte und Lebensmittel abzogen. Darüber hinaus blieb die Gesellschaft geprägt durch eine autozentrierte Entwicklung, wobei Hof, Adel, Mission und Kolonialverwaltung gemeinsam von der Arbeitskraft der bäuerlichen Bevölkerung profitierten.
Die Massnahmen der belgischen Verwaltung führten zur schrittweisen Zerstörung des bestehenden wirtschaftlichen, politischen und juridischen Systems. Statt einander konkurrenzierender Lehnsherrn und Verwalter des Mwami setzte die Kolonialverwaltung Chefs und Subchefs ein, die dem belgischen Residenten und ihren Distriktchefs verantwortlich waren. Die traditionellen Dienstleistungen der Bauern an den Adel wurden reduziert oder beseitigt. Dafür schufen die Belgier ein System der Zwangsbewirtschaftung ähnlich dem im Kongo. Wo Verpflichtungen gegenüber Tutsiherrn nicht gleich beseitigt wurden, konnten sie auch in Geld abgelöst werden. Damit wurde ein weiterer Schritt zur Integration der Bauern ins koloniale Wirtschaftssystem getan.
1931 setzten die Belgier den regierende Mwami Musinga ab und inthronisieren einen seiner Söhne als Mutare IV. Der sakrale Kontext der katholischen Kirche ersetzte fortan die bis dahin wirksame traditionelle religiöse Basis des Königtums und festigte die Macht der Tutsielite. Sie erhielt bevorzugt Zugang zu höherer Bildung, bezog ihre Macht aus der Beschäftigung als Regierungsbeamte und wurde zum Kern einer neuen Bourgeoisie. Die militärische Macht lag in den Händen der Belgier. Rechtsprechung und staatliche Verwaltung dominierten Vertreter der Tutsi-Elite im Auftrag der Kolonialmacht. Die als Hutu klassifizierte Bevölkerungsmehrheit war fortan von politischen Ämtern ausgeschlossen.
Die wirtschaftliche Macht war traditionell an den Beitz von Rindern gebunden, doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg kam es zur Einführung neuer Werte - Stoffe, Geräte, Schmuck, Geld - und einer Inflation der alten Werten - vor allem Rinder und Ziegen. Die Deutschen hatten den Kaffee als Exportkultur ins Land gebracht, aber erst die Anbauverpflichtungen für die Bauern, durch die belgischen Beamten im Office des Cafés Indigènes du Rwanda-Urundi überwacht, brachten eine Steigerung der Produktion. Problematische für eine wirtschaftliche Modernisierung war die extreme Binnenlage und das Fehlen einer Infrastruktur für den Handel. Zinn wurde nach Kaffee das zweitwichtigste Exportprodukt. Rwanda produzierte Nahrungsmittel für den Export nach dem Kongo, und tat dies selbst in Zeiten der Knappheit; Anfang der 1940er Jahre forderte eine Versorgungskrise an die 300.000 Opfer.
Nach 1945 wurde aus dem Völkerbundmandat ein Treuhandgebiet der UNO. Unter dem Druck der Vereinten Nationen richtete Belgien verschieden Institutionen der politischen Beteiligung ein, die zwar wenig reale Macht hatten, die einheimische Elite jedoch aufwerteten und die Dominanz der Tutsi stärkten. In Zusammenhang damit verstärkte sich der Gegensatz „Tutsi“ - „Hutu“, nicht zuletzt gefördert durch weitere Verbreitung von Printmedien, die zum Sprachrohr einer Hutu-Counterelite wurden. Die Identifikation als Hutu oder Tutsi immer wurde immer stärker ein politisches Mittel und ein soziales Problem.
Die Unabhängigkeit kam als Ergebnis der von der UNO koordinierten Treuhandführung; Voraussetzung war eine Gleichstellung der Bevölkerungsgruppen, wodurch sich Kolonialverwaltung wie katholische Kirche gezwungen sahen die Hutu, mit 85% deutlich die Mehrheit der Bevölkerung, stärker einzubeziehen und zu fördern. Obwohl nur etwa 10 bis 15% der Tutsi von der privilegierten Stellung der neuen Elite profitierten, hinderte ein Effekt der „rassischen“ Solidarisierung die arme und sehr arme Mehrheit der Tutsi an der Bildung einer gemeinsamen Front mit den Hutubauern. Nur wenige Angehörige der Oberschicht arbeiteten anderseits politisch verantwortlich auf eine Überwindung des Grabens zwischen Hutu und Tutsi hin. Beide Fraktionen gründeten Parteien und gegen Ende der 1950er Jahre kam es wiederholt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Im Oktober 1960 wurde ein Conseil du Rwanda als verfassunggebende Versammlung einberufen, in dem Parmehutu ((Parti du Mouvement de l'Emancipation Hutu) 31 der 48 Sitze innehatte. Der Resident ernannte ihren Führer Gregoire Kayibanda zum Regierungschef.
Im Sommer 1960 hatte Mwami Kigeri das Land verlassen und forderte, unterstützt durch die UNO, eine Wiederherstellung seiner Macht und eine verstärkte Kontrolle der Entkolonisierung durch internationale Organe. Die provisorische Regierung Rwandas erklärte daraufhin in einer Massenversammlung die Absetzung des Mwami und die Errichtung einer Republik. Wahlen im September brachten der Hutupartei erneut eine deutliche Mehrheit und bestätigten das Ende der Monarchie. Rwanda wurde am 1. Juli 1962 unabhängig und Kayibanda der Erste Präsident. Mehrfache Auseinandersetzungen und die Massenemigration von Tutsi prägten die 1960er Jahre. Die Regierung Kayibanda erwies sich als unfähig, einen Ausgleich zu schaffen und schliesslich stürzte die Armee 1973 die Zivilregierung.
Rwanda hatte aus der Zeit der belgischen Verwaltung eine Wirtschaft geerbt, die durch eine kaum entwickelte Infrastruktur, Agrarproduktion und Export von Arbeitskraft geprägt war. Besitz- und Einkommensverhältnisse waren durch extreme Ungleichheit geprägt. Die Binnenlage machte die Aussenwirtschaft kostspielig. Das Land hatte – etwa in Form der Wasserkraft, der Erzvorkommen oder der Methangasreserven, sowie im Tourismus– entwicklungsfähige Reserven, war jedoch weitgehend von ausländischer Unterstützung abhängig; Rwanda wurde, ähnlich wie Tanzania, zu einem Tummelplatz von Entwicklungshilfeorganisationen. Es blieb ein Agrarstaat, dessen Produktion vor allem der Selbstversorgung diente; exportiert werden vor allem Kaffee und Tee, aber in kleinerem Umfang auch Bergbauprodukte (Zinn).
Auf eine schwache Demokratie folgte eine Militärherrschaft, die die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme verdeckte statt zu lösen; im Unterschied zum „Hutustaat“ Kayibandas galten Tutsi nicht mehr als eine „auswärtige Rasse“, sondern eine ethnische Gruppe Rwandas mit minoritärem Status, der in einem Quotenkalkül Realisierung fand. Die Macht lag in Händen von Militärs und Politikern aus dem Norden des Landes. Gegner der Regierung fanden sich praktisch in allen Gruppen, die einmal eine politische Rolle gespielt hatten.
Wirtschaftlich erzielte das Militärregime eine Verbesserung. Dahinter stand ein Entwicklungsstaat, der mit autoritären Mitteln in traditionelle Wirtschaftsstrukturen eingriff, Umsiedlungen erzwang und die Bauern zu Zwangsarbeit verpflichtete, ganz nach dem kolonialen Modell. Gegen Ende der 1980er Jahre kamen jedoch die globale Krise und die Strukturanpassungsmassnahmen der Bretton-Woosd –Organisationen, die der Agrarproduktion für den Export (Verfall der Kaffeeepreise) wie für die lokale Versorgung schweren Schaden zufügten.
1990 begann die Invasion der Rwanda Patriotic Front (RPF), in deren Folge sich der Konflikt zwischen den Fraktionen „Tutsi“ und „Hutu“ weiter verschärfte. 1993 gab es in Rwanda rund 950.000 internally displaced people und nahezu 1 Mio. Menschen im Süden waren von Hunger bedroht. Die von internationaler Seite geförderte Friedenskonferenz in Arusha brachte keine Lösung; die militärische Intervention der UNO und Frankreichs heizte den Konflikt weiter an statt zu beruhigen. Bestimmte Medien führten eine massive Hetzkampagne gegen die RPF und die Tutsi insgesamt.
Der Abschuss eines Flugzeugs forderte im April 1994 das Leben des rwandischen und des burundischen Präsidenten. Nur eine Viertelstunde später, „setzten die ersten Gewaltakte bewaffneter ziviler Milizen und der rwandesischen Streitkräfte ein. Innerhalb weniger Stunden steht das Land in Flammen und Blut. Wie 1959, 1963, 1991, 1992 und 1993 wird geplündert, werden Häuser angesteckt und wird vor allem gemordet” beschreibt Jean Claude Willame in seinem Buch Aux sources de l’Hécatombe rwandaise (1995:9) den schlimmsten Völkermord seit der Shoa. Die internationale Gemeinschaft versagte angesichts der Tragödie in Zentralafrika vollständig. Frankreich und Mobutu auf der Seite der alten Regierung, Uganda, die USA und Südafrika mehr oder minder offen hinter der Patriotischen Front, Belgien, die UNO und die meisten Hilfsorganisationen kläglich dazwischen: jeder versuchte sein Möglichstes zu tun und vor allem das eigene Gesicht zu retten.
Die RPF eroberte Anfang Juli die Hauptstadt Kigali – die Regierung und die Verantwortlichen der Massaker flüchtetet und mit Ihnen die Hälfte der Bevölkerung.
Die Macht im Land ging an eine Militärelite, die durch die zweite Generation von Rwandern aus dem Exil in Uganda geführt wird. International vollzog die neue Regierung einen Wechsel vom frankophonen neokolonialen Block zur USA. Aus Rwanda wurde eine „autoritäre Demokratie“, die mit Unterstützung westlicher Geber eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung vollzog.
2000 liess sich Paul Kagame, Führer der RPF, durch ein selbst ernanntes Parlament zum Präsidenten wählen, 2003, 2010 und 2017 liess er sich mit jeweils über 90% der Stimmen vom Volk bestätigen. Rwanda unter Kagame verwandelte sich aus einem frankophonen in ein anglophones Land, womit nicht zuletzt das Ausmass von Einfluss und Macht in der globalen und nationalen Politiklandschaft markiert ist. Rwansa wurde ein erfolgreicher autoritärer Entwicklungsstaat. Die offizielle Entwicklungshilfe (ODA) stieg zwischen 2000 und 2008 auf gut das Doppelte und betrug 2017 knapp 508 Mio. US-$. Das Land beeindruckt seine Geber durch ein Wirtschaftswachstum zwischen 6 und 8%, ein Bekenntnis zu Marktwirtschaft und moderner Technologie und nicht zuletzt auch durch Effizienz in der Umsetzung unpopulärer Massnahmen.
Philip Reyntjens (2015:24) nennt im Journal of Democracy Rwanda einen „klaren Falle von hegemonialem Authoriarianismus“. Diese Hegemonie hätte die Patriotische Front durch die Eliminierung von Opposition und unabhängiger Zivilgesellschaft erreicht. Menschenrechtsverletzungen, Ermordung von Oppositionellen und vermeintlichen Gegnern würde die internationale Gemeinschaft ebenso tolerieren wie scheindemokratische Verfahren bei der Zusammenstellung politischer Institutionen. Die Instrumentalisierung des Genozids ist ein zentrales Instrument in der Beeinflussung der internationalen Meinung wie der Kontrolle der breiten Bevölkerung. Nicht zuletzt ist es aber die wirtschaftliche Entwicklung und die Kooperation mit den westlichen global players, die Kagame internationale Anerkennung einträgt, und seine Partner über die krassen Demokratiedefizite hinwegsehen lässt.
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